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Seit genau 102 Tagen. Sie hatte den Tag ihrer Geburt nicht überlebt, nicht einen Atemzug getan. Kein einziges Mal hatte sie ihr Kind schreien gehört. Aber sie träumte von ihm. Nacht für Nacht. Sie stand auf, wie jede Mutter eines Säuglings es tut, wankte in das Zimmer, das sie liebevoll und voller Vorfreude eingerichtet hatte.


Sie hatte Sarah in ihren Armen gehalten, ihr vorgesummt, sie geschaukelt, während ihre Tränen die Decke, in die sie gewickelt gewesen war, feucht werden ließen. Nie mehr wollte sie ihre Kleine loslassen. Alles hätte sie getan, um sie behalten zu dürfen, doch dann waren die Pflegerinnen und die Ärzte und Psychologen gekommen. Das Baby sei tot, hatten sie gesagt, und es aus ihren Armen

gewunden. Ebenso leer, wie sich ihre Arme anfühlten, war auch ihr Herz. Es hielt sie zwar am Leben, doch jegliches Gefühl war aus ihm gewichen. Das, was ihr Verstand schließlich irgendwann akzeptiert hatte, wurde von ihren Gefühlen verleugnet.

 

Sie ließ sich auf den Boden gleiten, umfasste ihre 

Knie mit beiden Armen und legte den Kopf darauf. In ein, zwei Stunden würde sie vielleicht die Kraft finden, in ihr Bett zurückzukehren. Bis dahin würde sie sitzen bleiben und an ihre kleine Tochter denken: Wie sie sich gefreut hatte, Sarah nach Hause zu bringen, in ihr Zimmer, dessen Wände moosgrün und sonnengelb gestrichen waren, weil sie rosa verabscheute. Eigenhändig hatte sie das Gitterbett zusammengeschraubt und den Himmel montiert, ein Kunstwerk aus weißer Baumwolle mit Spitzen an den Enden. Das Kissen, an dessen Überzug sie wochenlang gestickt hatte. Niemals würde Sarah das alles sehen, nie wissen, wie sehr sie geliebt, wie sehr sie vermisst wurde.Ein Geräusch drang in ihre Gedanken. Das Weinen war wieder da. Sie hob den Kopf, lauschte. Es war eindeutig ein Baby. Es schrie, nein, es brüllte. Sarah? Nein, natürlich nicht, das war keine Einbildung. Kein grausames Trugbild. Sie träumte nicht. Diese Träume kamen immer, wenn sie in ihrem Bett lag und schlief – niemals, wenn sie in Sarahs Zimmer auf dem Boden saß. Sie rappelte sich auf, wankte zur Wand des Kinderzimmers und presste ihr Ohr dagegen. Da war das Weinen wieder -

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