Aber ich bin um zehn gegangen. Sie ist noch geblieben.« »Ach ja?« Leon presste die Lippen aneinander. »Ich ...«, begann er, beendete seinen Satz aber nicht. »Du beobachtest sie doch ständig«, brach es aus mir heraus. »Du bist immer dort, wo sie auch ist. Ein verdammter Stalker bist du!« Er senkte seinen Blick, konnte mich nicht ansehen. Es stimmte also. Ich hatte mitten ins Schwarze getroffen. »Du verfolgst sie. Dauernd. Warum dann gestern nicht? Hat sie es endlich bemerkt? Hat sie dich abblitzen lassen?« Ich war laut geworden und Tränen liefen über meine Wangen. Mit einer fahrigen Bewegung wischte ich sie weg. Nun sah er mich an. »Du kapierst auch gar nichts.« Er schüttelte den Kopf. »Ach, was kapier ich denn nicht? Man muss ja kein Genie sein, um zu merken, dass du dich bei ihr einschleimen wolltest. Mir wird übel, wenn ich daran denke, dass du damit sogar Erfolg gehabt hast.« »Was für ein Blödsinn! Ich schleime mich bei niemandem ein. Bei Julia schon gar nicht. Habe ich gar nicht notwendig. Und überhaupt. Vielleicht kannst du mich mal darüber aufklären, was das ganze Theater soll?«
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Er sah wirklich so aus, als ob er keine Ahnung hätte, worüber ich sprach. Vielleicht tat er auch bloß so. Ich seufzte. Meine Überrumpelungstaktik hatte nichts
genützt. »Julia ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen. Nach dem Grätzel hat sie keiner mehr gesehen. Sie kann doch nicht einfach vom Erdboden verschluckt worden sein.« Leon sah mich an und öffnete den Mund. Dann schüttelte er den Kopf, bevor er sagte: »Du glaubst wirklich, ich hätte mit ihrem Verschwinden etwas zu tun? Dir ist echt nicht zu helfen.« Dann ging er. Ließ mich stehen, einfach so. Ich lief hinter ihm her. »Leon!« Er drehte sich nach mir um. »Was? Hast du noch mehr Unterstellungen für mich auf Lager?« Die plötzliche Hitze in meinen Wangen kam bestimmt vom Fieber. »Es ist nur ... ich bin ... also ...« Verflixt, warum brachte ich keinen ganzen Satz mehr heraus? Ein paar Sekunden stand er noch da, wartete darauf, dass ich was sagte. Doch als nichts kam, öffnete er die Eingangstür zum Grätzel und verschwand gleich darauf in dem Lokal. Leon war mir auf den Geist gegangen mit seiner ständigen Anwesenheit, mit diesem schmachtenden Blick aus seinen braunen Dackelaugen,
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