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der zugegeben sogar ein wenig niedlich war. Und wenn er log und nur so tat, als wüsste er nichts von Julias Verschwinden? Wenn er sie in Wirklichkeit abgepasst, ihr aufgelauert hatte, als sie auf dem Heimweg war? Sie hätte sich vor ihm nicht gefürchtet, wahrscheinlich wäre sie sogar froh gewesen, nicht allein unterwegs sein zu müssen. Doch wo steckte sie? War sie in Leons Wohnung? Womöglich hatte er ihr K.-o.-Tropfen in ihr Getränk gemischt um... um was mit ihr zu tun? Schreckliche Bilder schossen mir durch den Kopf. Ja, schon klar, ich hatte immer noch Fieber – da kann einem die Fantasie schon mal durchgehen! Leon sah nun echt nicht wie ein Vergewaltiger aus, aber – Leons Innenwelt war undurchdringlich und dunkel. Geheimnisvoll. So einfach würde ich nicht aufgeben. 

Ich schlug den Weg zur Bushaltestelle ein, den Julia gegangen sein musste, als sie gestern das Grätzel verließ. Ich hatte sie dafür belächelt, aber Julia war immer der Überzeugung gewesen, dass zwischen Menschen, die sich nahestanden, eine spürbare Bindung war. Eine Verbundenheit, die auch dann nicht abriss, wenn man räumlich getrennt war.

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Immer wenn sie davon anfing, grinste ich in mich hinein und fragte mich, wie ein vernünftiger, fast erwachsener Mensch an solche Märchen glauben konnte. Meine Argumente wischte Julia einfach beiseite. »Wie erklärst du dir, dass meine Mutter gefühlt hat, als ich mir im Kindergarten das Bein gebrochen habe? Oder Zwillinge: Man hört doch oft, dass sie sich ganz ähnlich entwickeln, auch wenn sie von Geburt an getrennt aufwachsen.« Auf sämtliche meiner Argumente hatte sie ein Gegenargument parat, sodass ich sie einfach weiterreden ließ. Schließlich konnte jeder glauben, was er wollte. Ich ging die Gasse entlang, bis ich zu dem Pfad zur Haltestelle kam, und stellte mir vor, wie Julia genau hier entlanggekommen war. Was mochte sie gesehen haben? Soweit ich wusste, war bald Neumond. Hatten die Laternen am Wegrand geleuchtet? Oder war es stockfinster gewesen? Ich versuchte zu fühlen, was Julia empfunden haben musste. Doch alles, was ich spürte, war meine Angst um sie. 

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