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 Zeigte ihr viel zu schnell klopfendes Herz nicht genau das Gegenteil? Morgen war auch noch ein Tag, morgen würde sie ihre Angst in die Schranken weisen. Sie würde im Hellen losgehen, sich nicht aufhalten lassen wie heute. Von ihrem Vorsatz wäre sie schließlich auch jetzt nicht abgerückt, wenn sich nicht diese Mitfahrgelegenheit ergeben hätte. Das war zwar noch kein Sieg gegen ihren unsichtbaren inneren Gegner, aber dennoch ein Grund, stolz auf sich zu sein. »Danke«, sagte sie. »Ich bin froh, wenn ich nicht auf den Bus warten muss, es ist ziemlich kalt.« »Ja, ist es. Mich wundert, dass du überhaupt allein unterwegs bist, nach dem … Vorfall letztens. Hast du keine Angst?« Doch, wollte Julia antworten. Doch, sie sitzt in mir, ist mein ständiger Begleiter. Sie spricht mit mir, umklammert mich – aber das ging niemanden etwas an. Sie musste mit ihrer Angst allein fertig werden, sie ignorieren, ihr entgegentreten, dann würde sie vergehen. Deshalb sagte sie: »Nein. Schließlich geht das Leben weiter, nicht wahr? Ich kann mich nicht ewig verkriechen.« Julia wusste, dass der Grund für ihre Angst nicht irgendwo da draußen war. Das, was ihr so Angst 

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machte, hatte sich in ihrem Heim eingenistet, saß mit ihrer Mutter und ihr am Frühstückstisch, lächelte und keiner außer ihr durchschaute seine Fassade. Sie hatte niemandem von ihrem Verdacht erzählt, denn wer würde ihr schon glauben? Sie glaubte es ja selbst nicht: Dr. Sebastian Mechat, praktischer Arzt, ihr eigener Vater, war Melissas Mörder.

 

 

Kapitel 1

 

Ich bekam die Augen kaum auf, mein Hals war trocken und schmerzte. Das T-Shirt klebte auf meiner Haut und fühlte sich klamm an. Mich fröstelte. Auf dem Nachttisch stand ein Becher. Ich griff danach, doch da merkte ich, dass er leer war. Der Weg vom Bett hin zum Fenster war eine einzige Qual, aber trotz der Kälte musste ich lüften. Wenigstens kurz. Ich hatte das Gefühl zu ersticken – und das lag nicht an dieser blöden Grippe, die mich total außer Gefecht setzte. Wenn ich länger als ein paar Stunden zu Hause verbrachte, fühlte ich mich irgendwann, als ob ich keine Luft mehr bekäme.

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