mit freundlicher Genehmigung des Piper Verlages
Prolog
Luisa starrte gebannt auf die Spinne an der Zimmerdecke. Früher hatte sie sich vor diesen Tieren geekelt. Doch diese war ihr eine willkommene Gesellschafterin, eine stumme Freundin, die einzige Gefährtin in diesem fensterlosen Raum. Luisa hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange brauchte eine Spinne, um ihr Netz zu weben? Beharrlich saß die Spinne da und wartete auf Beute.Voller Zuversicht hockte sie in ihrem Netz. Luisa hatte sich geschworen, ebenso lange durchzuhalten, wie das Tier. Er musste ihr irgendetwas verabreicht haben. Sie hatte sich anfangs kaum bewegen können. Alles, was nach der Modenschau passiert war, lag am Rande ihres Bewusstseins. Zu weit entfernt, um es zu fassen. Sie betrachtete ihre wunden Knöchel. Sie hatte sich die Fäuste an der Stahltür blutig
geschlagen, geschrien, bis sie heiser war, und
Der Augenschneider (Leseprobe)
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geweint, bis ihre Augen so geschwollen waren, dass sie kaum noch etwas sehen konnte.Luisa blickte erneut zu der Spinne hinauf. Sie konnte nicht untätig herumsitzen und warten. Sie musste etwas tun. Vielleicht hatte er etwas übersehen, eine Ritze, einen Spalt, irgendetwas, das sie für sich nutzen konnte, und sei es nur, um in Bewegung zu bleiben, um sich zu beweisen, dass sie noch lebte, atmete, dachte. Ihre Augen wanderten über die kahlen Wände zu dem schmalen Bett. Sie hob die Matratze an. Das war gar nicht einfach. Sie wog viel schwerer, als die in ihrer Wohnung. Außerdem war sie alt, fleckig und so durchgelegen, dass sie nicht stehen blieb, als Luisa sie an die Wand lehnte. Nach zwei Versuchen ließ sie das verdammte Ding einfach auf dem Boden liegen. Ihre Hilflosigkeit brachte sie erneut zum Weinen. Sie setzte sich auf das Bettgestell, die Arme fest um ihre Knie geschlungen und wippte leise summend vor und zurück. Als ihr Schluchzen verebbt war, straffte sie die Schultern und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen und den Rotz aus dem Gesicht. Entschlossen bückte sie sich, um die schwere Matratze wieder auf den Bettrahmen zu hieven.
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